Rot


2004-7-6 nebel picture

Der Park ist still und verlassen.


Die Wege zwischen den alten Weiden liegen noch in der blauen Schwärze der Nacht geborgen.


Leichter Nebel umspielt die Wurzeln der großen Bäume.


Ein leises Knirschen nur kündet vom Herannahen einer einsamen Gestalt.


Es ist eine Frau, die da den Weg entlang schreitet, tief versunken in Gedanken,


das Gesicht der Erde zugewandt.


Sie trägt ein weißes, wallendes Kleid, wie angemessen zu einer Hochzeit.


Langsam, gemessenen Schrittes, nähert sie sich einer der Parkbänke.


Sie läßt sich auf einer Bank nahe am Wasser nieder,


sorgsam darauf bedacht, das weiße Kleid nicht zu beschmutzen.

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Nun endlich hebt sich ihr Blick über das Wasser zum Horizont hin.


Der Himmel in dieser Richtung zeigt schon die ersten Anzeichen vom herannahenden Licht.


Ein zartes Rosa färbt das Grau der Wolken und vertreibt die Schwärze aus dem Osten.


Aus Rosa wird bald Rot, erst zaghaft, dann immer feuriger.


Der Blick der weißen Frau scheint wie magisch angezogen von dieser Farbe.


Das Rot des Himmels spiegelt sich in ihren Augen sanft wieder.


Augen, die viel zu alt scheinen für den Körper, das Gesicht, in dem sie ruhen.


Viel müssen sie wohl gesehen haben, und doch wohnt in ihnen eine tiefe Sehnsucht.


Sehnsucht, zu sehen, was viel zu lange vor ihnen verborgen bleiben mußte.


Diese Augen blicken beständig zum Horizont, blicken und warten.


Rot spiegelt sich der Himmel, doch in den Augen ist mehr Rot als am Himmel.


Feucht glänzen sie, und eine rote Träne rinnt langsam über eine weiße Wange.


Rot auf Weiß, wie eine Rose auf Marmor.


Im Park beginnen sich langsam schon die ersten Vögel zu regen,


um mit ihren Stimmen den neuen Morgen zu begrüßen.

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Eine dunkle Gestalt gesellt sich zu der weißen Frau auf der Parkbank.


Der Fremde ist in eine Robe aus sehr dunklem, blauen Samt gehüllt.


Die Kaputze ist tief ins Gesicht gezogen, das fast völlig im Schatten liegt.


"Vater?"


Der Blick unter der Kaputze ist nicht zu deuten, die Augen nicht zu erkennen.


"Vater, warum erscheint ihr jetzt, jetzt da es zu spät für mich ist...?"


Keine Bewegung verrät eine Reaktion,


der Blick scheint nur auf der Frau zu ruhen.


"Ich habe versagt, Vater, ich weiß es, und Ihr wißt es auch.


Ich kann meiner Pflicht nicht mehr nachkommen.


Dazu habe ich einfach nicht mehr die Kraft."


Blauer Samt gerät in Bewegung,


eine dünne alte Hand legt sich um die weiße Hand der Frau, umschließt nicht nur ihre Hand,


sondern auch den Eichenpflock den sie hält.


"Es ist zu spät, Vater.


Gebt meine Hand frei,


daß ich noch einmal die Sonne erblicken kann.


Ein letztes Mal.


Dann kann ich auf ewig in Frieden ruhen.


Gestattet mir nur diesen letzten Wunsch, ich bitte Euch.


Verdammt mich nicht zu ewiger Finsternis, auch wenn ich es verdiene."


"Du wirst die Sonne sehen, Tochter.


Aber nicht jetzt, und nicht hier, und auch nicht bald.


Doch wenn Du sie siehst, dann wird das mit Tränen in den Augen sein.


Tränen aus Salz, nicht aus Blut."

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Weiß, fast leuchtend gleitet der Nebel um die Weiden.


Die Vögel in den Bäumen erproben die ersten Lieder,


die Enten auf dem Wasser umkreisen einen verschlafen Schwan,


als würden sie seine Anweisungen für den Tag erwarten.


Auf einer Parkbank am Wasser liegt ein angespitztes Stück Holz.


Nur ein roter Tropfen Blut weist auf seine vergangene Bestimmung hin.


Ein winziger Tropfen, der nun leise zu rauchen beginnt,


als ihn der erste Strahl der aufgehenden Sonne trifft.

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alles Bild, Text und Tonmaterial ist © Martin Spernau, Verwendung und Reproduktion erfordert die Zustimmung des Authors

Martin Spernau
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