Deidre
Beschreibung ->
entstanden: Dez '92 | Medium: Acrylfarben
Deidre
Heute war also der große Tag. Wenn er diese Prüfung abgelegt hatte, würde er seine Kunst endlich ausüben können, wie er wollte. Er würde nicht länger als Schüler beurteilt werden. Seine Unfähigkeit, den Maßstäben der klassischen Kunst zu entsprechen, würde dann vielleicht als seine persönlich Interpretation der Wirklichkeit gesehen.
Doch zuerst mußte er diese letzte Prüfung bestehen.
Seine Klassenkameraden saßen mit konzentrierten Mienen an ihren Arbeitstischen und Staffeleien. Auf der Stirn einiger stand Schweiß. Als Inspiration und Thema für die Prüfung war das einzige im Raum anwesende Mädchen, Deidre, zuständig. Schon seit zwei Stunden posierte sie vor der Prüfungsklasse. Als Absolventin der Theater- und Tanzschule erreichte sie in jeder ihrer Bewegungen und Posen eine Grazie, die Calvin fast zur Verzweiflung trieben. Er sah für sich keine Möglichkeit, jemals auch nur einen Hauch dieser Ausdruckskraft in sein Werk zu übersetzen. Deidre hatte sich derart gesteigert, daß nun bei jeder ihrer Bewegungen ein ehrfürchtiges Raunen durch den Raum ging. Calvin mußte bei dem Anblick seiner Mitschüler an eine Aussage seines Mentors denken, die er nie ganz verstanden hatte: "Die Schwierigkeit für den Künstler liegt nicht darin, die Schönheit der Welt darzustellen, sondern darin sich lange genug mit offenen Sinnen dieser Schönheit auszusetzen, ohne vor Verzückung dem Wahnsinn zu verfallen." Er wußte jetzt, daß dieser Satz auf alle seine Prüfungskollegen zutraf. Ihnen konnte man den inneren Kampf ansehen. Für ihn jedoch bestand das Problem schlicht darin, die Atmosphäre, die Deidres Posen verströhmten, einzufangen.
Calvin ging seine Skizzen ein weiteres Mal durch, und war sich immer noch nicht klar, mit welchem Medium er der Schöhnheit und Eleganz Deidres gerecht werden könnte. Während alle anderen Prüflinge schon mit der Ausarbeitung ihrer Entwürfe begonnen hatten, war sich Calvin noch nicht einmal klar, ob seine Skizzen überhaupt Deidre darstellten. Schließlich faßte er sich ein Herz und fing einfach mit dem an, was ihm am meisten lag. Er rief sich die Worte seines Medidationslehrers ins Gedächtnis, atmete tief durch und lies ein Lächeln über seine Züge spielen. Er nahm den Farbgriffel zur Hand und begann auf einem glatten Blatt einen Hintergrund anzulegen.
alles Bild, Text und Tonmaterial ist © Martin Spernau, Verwendung und Reproduktion erfordert die Zustimmung des Authors